Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland
Gesundheit
23.01.2023
26.03.2024 15:25 Uhr

Der Krampf mit den Drogen

Drogenfahnder kontrollieren Jugendliche, Hirschenplatz 1985.
Drogenfahnder kontrollieren Jugendliche, Hirschenplatz 1985. Bild: Aus dem besprochenen Buch, S. 135
Der Umgang mit Drogenabhängigen wurde ab 1970 zu einem äusserst umstrittenen politischen Thema, wobei die Stadt Zürich oft ein besonderer Brennpunkt war. Ein neues Buch beleuchtet das Entweder-oder zwischen Repression und Hilfe bis zur Stabilisierung durch das Vier-Säulen-Konzept.

Tobias Hoffmann

Der grosse Erfolg des Spielfilms «Platzspitzbaby» im Jahr 2020 machte wieder einmal deutlich, dass sich die offene Drogenszene, vor allem jene in Zürich, ins kollektive Schweizer Bewusstsein ein­geschrieben hat. Die fürchterlichen Zustände auf dem Platzspitz (1987–1992) und am Letten (1992–1995) stellen darüber ­hinaus für die Zürcher Stadtgeschichte traumatische Episoden dar, die der Stadt weltweit einen zweifelhaften Ruf eingetragen haben. So sichtbar waren Elend und Verwahrlosung in der Schweiz seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gewesen.

Jahrzehnte bis zum Ende der Hilflosigkeit

Wer sich nun dafür interessiert, wie es kam, dass sich, rund 20 Jahre nach dem ersten Wetterleuchten der Drogenproblematik, angesichts der offenen Drogenszene eine solche politische und behördliche Hilflosigkeit manifestierte, kann eine kürzlich erschienene, überaus informative Publikation zur Hand nehmen: «Die Schweiz auf Drogen». Ein Team von fünf Historikern zeichnet darin die von ideologischen Gegensätzen geprägte Auseinandersetzung um den geeigneten Umgang mit Drogensüchtigen und -dealern nach. Im Spannungsfeld dieser Gegensätze – auf der einen Seite gab es die Vorstellung, mittels Repression die Drogensucht ausrotten zu können, auf der anderen die Idee, Drogen seien Teil einer kre­ativen Subkultur und Ausdruck eines Protests gegen eine «kranke» Gesellschaft – dauerte es Jahrzehnte, bis ein Weg gefunden wurde, eine breit akzeptierte, wirksame Strategie zu entwickeln.

«Ich habe erfahren, dass es vor allem in Europa kein Verhältnis zum Rauschgiftsüchtigen als menschliches Wesen gibt und dass man nichts tut, um ihm die Würde wiederzugeben, die er von sich aus zu verlieren droht.»
David Rosenberg, praktizierender Arzt in London, 1970 an einer Fachtagung in Rüschlikon

Das Buch ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Es setzt, nach einem Abriss der Drogendiskurse seit dem 19. Jahrhundert, in denen es vor allem um den Alkohol ging, mit dem steigenden Drogenkonsum in den 1960er-Jahren ein, als im Rahmen des jugendkulturellen Aufbruchs Drogen in verschiedenen Jugendszenen eine bedeutende Rolle einzunehmen begannen; und es führt bis in die Gegenwart mit den wieder intensiver ­geführten ­Diskursen rund um die Cannabis-Legalisierung und die Neuevaluation psychogener Drogen in der Medizin.

Darstellung des Drogenalltags

Was das in vier Hauptteile gegliederte Buch so spannend und wertvoll macht, ist der Zugriff auf die Thematik aus drei Richtungen: In den ersten drei Teilen, welche die Zeit bis ins Jahr 2000 abdecken, werden zuerst jeweils die medialen und politischen Debatten geschildert; danach folgen Schilderungen verschiedenster ­Aspekte des Drogenalltags, im Sinne einer Geschichtsschreibung von unten; drittens kommen schliesslich die fachlichen Debatten in den Bereichen Sozialarbeit, Wissenschaft und Polizei zur Sprache. Dieses Verfahren gibt vielen involvierten Personen eine Stimme, vom einfachen Gassenarbeiter oder Hausarzt über Professoren und Chefärzte bis zu Regierungs- und Bundesräten.

Nachverfolgung gesellschaftlicher und fachlicher Debatten

Auf diese Weise hat man Gelegenheit, mit vielfältigen Positionen und Denk­ansätzen vertraut zu werden. So erfährt man zum Beispiel von einem Analyse­modell der beiden Basler Psychiater Paul Kielholz und Dieter Ladewig, die bereits 1972 ein Dreieck von Faktoren definierten, mit denen die möglichen Ursachen für eine Drogenabhängigkeit – das Wort «Sucht» vermieden sie – bestimmt werden konnten. Das Dreieck bestand aus der Persönlichkeit der Drogen konsumierenden Person, aus ihrem sozialen Umfeld und aus den Eigenschaften der konsumierten Substanz. Daraus leiteten die beiden als Interventionen die Stärkung des Selbstbewusstseins (Persönlichkeit), die Stabilisierung sozialer Bindungen (Umfeld) und die Information sowie Werbeverbote (Substanz) ab. Hellhörig macht, dass sie bei der Droge nicht nur die pharmakologische Wirkung in Betracht zogen, sondern auch die Rahmenbedingungen des Konsums, also die Dosierung, die Appli­kationsform, den Preis oder die Verfügbarkeit.

«Dahinter steht der Gedanke, dass solche lindernden Medikamente auch wieder ihre negativen Nebenwirkungen haben und auch eine Art Drogen sind.»
Rudolf Knab, Chefarzt Psychiatrische Klinik Rheinau, vermutlich um 1980

Von hier wäre es nur ein kleiner Schritt gewesen, sich Gedanken über die Umstände der Drogenbeschaffung zu machen. Aber es scheint ein langer Weg gewesen zu sein, bis es überhaupt nur denkbar wurde, den Stress bei der Beschaffung der illegalisierten Drogen als wesentlichen Teil des Problems zu sehen, sowohl in sozialer als auch in gesundheitlicher Hinsicht.

Repression ohne wesentliche Wirkung

Zuerst einmal ging die Gesellschaft Anfang der 1970er-Jahre Richtung Repression, bis 1975 im revidierten Betäubungsmittelgesetz der Drogenkonsum verboten wurde. Die Zunahme des Konsums konnte damit keineswegs verhindert werden. Die Zahl der illegale Drogen Konsumierenden stieg von etwa 4000 im Jahr 1976 auf 10 000 um 1985 und sogar etwa 25 000 ein paar Jahre später. Den ersten Drogentoten gab es erst 1972, 1976 waren es 52, 1985 bereits 118 und 1988 über 200. Eine der markantesten Reaktionen darauf kam von einem berühmten Zürcher Politiker: Ende 1979 regte Moritz Leuenberger, Präsident der Stadtzürcher SP, soeben zum Nationalrat gewählt, nachmaliger Bundesrat, in einer Motion «die Entkriminalisierung des Drogenkonsums und die Legalisierung der medizinisch indizierten Betäubungsmittelabgabe an» (im Buch auf Seite 96).

Neue gesundheitliche Risiken

Parallel zur Zunahme des Drogenkonsums verschärften sich neuartige gesundheitliche Probleme: Verunreinigte Spritzen trugen wesentlich zu den Hepatitis- und Aids-Epidemien der 1980er-Jahre bei. Doch noch 1985 gingen die drogenpolitischen Massnahmen diametral auseinander: Während die Stadt Zürich eine Suchtpräventionsstelle einrichtete, erliess der Zürcher Kantonsarzt ein Verbot der Abgabe sauberen Injektionsmaterials. Auch während der «Platzspitzkrise» blieben die Strategien widersprüchlich. Dann aber, ausgehend von einer Ende 1987 formulierten «Drogencharta», begann eine intensive Zusammenarbeit verschiedener Institutionen, die zum Beispiel im «Zürcher Interventionspilotprojekt gegen Aids» (Zipp-Aids, siehe Bild unten) mündete. Es umfasste Hepatitisimpfungen, ambulante medizinische Betreuung und die Spritzenabgabe: Zwischen 2 und 3 Millionen sterile Spritzen wurden auf dem Platzspitz jährlich verteilt.

«Wenn einer deiner beiden Söhne heroinabhängig wäre und ins Gefängnis käme, wärst du auch froh, wenn er saubere Spritzen erhalten würde.»
Franz Probst, Gefängnisarzt, 1990er-Jahre, zum Solothurner Regierungsrat Rolf Ritschard
  • Zipp-Aids: Spritzentausch und medizinische Versorgung beim Hauptbahnhof, 1992. Bild: Aus dem besprochenen Buch, S. 237
    1 / 2
  • Ankündigung eines Vortrags des Soziologen Günter Amendt im «Cooperativo», 1992. Bild: Aus dem besprochenen Buch, S. 247
    2 / 2

1988 etablierte der Zürcher Stadtrat das sogenannte Vier-Säulen-Prinzip, bei dem zu den bisherigen Massnahmenbündeln aus Repression, Prävention und Therapie die Überlebenshilfe hinzukam. Im März 1989 wurde auf dem Platzspitz, auf Anregung des FDP-Gemeinderats André Kuy, eine mobile Arztpraxis eingerichtet. Für noch weitergehende Massnahmen war die Zeit jedoch nicht reif: Als Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr 1989 erstmals die ärztlich verschriebene Heroinabgabe forderte, seien ihre Stadtratskollegen «wie vom Blitz getroffen» gewesen, wie es im Buch heisst.

Grosse Themenvielfalt

Mit diesen Schlaglichtern ist nur ein kleiner Teil dessen angesprochen, was die «Schweiz auf Drogen» in den letzten Jahren umgetrieben hat. Mit Gewinn zu lesen sind die vielen Einblicke in den Alltag des sich professionalisierenden Drogenhandels und der sozialtherapeutischen Einrichtungen, in die Rolle der Phar­maindustrie und die Markteinführung neuer Substanzen. So wird die Geschichte bis in die Gegenwart weitererzählt, bis zu den spezifischen Mechanismen der Drogenkultur in der ganz anders gearteten Partyszene der Gegenwart.

Neue Herausforderungen für die Politik

Für die Autoren ist die Drogenpolitik hierzulande nach der Etablierung der Vier-Säulen-Strategie, mit der die Schweiz zu einer weltweiten Vorreiterin wurde, «auf halbem Weg stecken geblieben». An Her­ausforderungen fehlt es nicht: Mischungen von traditionellen Drogen und neuen psychoaktiven Substanzen haben in den USA bereits zahlreiche Todesopfer gefordert. Weltweit stellt sich die Frage immer drängender, ob es nicht besser wäre, Substanzen mit bekannten Eigenschaften direkt abzugeben, «statt die ­Konsumierenden den Unwägbarkeiten des Marktes auszusetzen». Niemand will erleben, dass die Drogentoten in der Schweiz wieder zunehmen.

Peter-Paul Bänziger, Michael Herzig, Christian Koller, Jean-Félix Savary, Frank Zobel:
«Die Schweiz auf Drogen. Szenen, Politik und Suchthilfe, 1965–2022».
Chronos Verlag, 2022. 383 Seiten, CHF 38.–

www.chronos-verlag.ch

Bild: Chronos Verlag
Tobias Hoffmann