Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland
Lifestyle
10.11.2023

Karg und doch wunderschön

Draussen in der norwegischen Natur: In der Urlandschaft der Hardangervidda ist man meist völlig alleine unterwegs.
Draussen in der norwegischen Natur: In der Urlandschaft der Hardangervidda ist man meist völlig alleine unterwegs. Bild: Daniel Heddergott
Fjorde, Gletscher und spektakuläre Wasserfälle: Norwegens Natur hat viel zu bieten und zieht jedes Jahr unzählige Touristen in ihren Bann. Wer es individueller mag, kommt bei einer Durchquerung der Hardangervidda zu Fuss auf seine Kosten. Eine Wanderreportage.

Daniel Heddergott*

Direkt am Fenster reicht es manchmal für einen Balken Handyempfang. Der Hüttenwirt hat für uns am Morgen extra nochmals den Wetterbericht abgerufen. Es regnet, aber im Lauf des Vormittags soll es besser werden. Also los. Die zweite Etappe unserer Tour durch die Hardangervidda beginnt.

Es geht rund um einen Stausee. Zunächst bergab und dann über die nackten Felsen steil bergan. Das Gelände ist mit «unwegsam» nur milde umschrieben. Der Weg an sich ist gut markiert. Dafür haben die Freiwilligen des norwegischen Wandervereins schon gesorgt. Ungefähr alle 50 Meter sieht man das rote «T» an einem Fels oder an einem Steinmännchen. Für jemanden mit Rot-Grün-Sehschwäche ist das nicht optimal und man wünscht sich das bekannte Weiss-Rot-Weiss hierher. Der Weg führt uns über schmale, tief ausgetretene Pfade mit vielen morastigen Stellen. Ein unaufmerksamer Tritt und der Schuh steckt im Schlamm fest. Immer wieder muss man sumpfige Stellen komplett umgehen. Dann kommen die Steine, Kiesel, Schieferplatten, Brocken, Blöcke und Felsen. Viele sind mit Moos und Flechten bewachsen. Alle Schattierungen von Grün. Wunderschön anzusehen. Nur leider sehr rutschig. Jeder Schritt muss bedacht werden, sonst landet man im besten Fall auf dem Hinterteil. Was sonst noch passieren kann, mag man sich nicht vorstellen. Die Hardangervidda ist eine Hochebene auf ungefähr 60 Grad nördlicher Breite, also immer noch in Südnorwegen. Sie liegt im Mittel auf 1200 bis 1400 Metern über dem Meer. Das soll nicht täuschen. Die Vegetation ist spärlich und man bewegt sich dort schon über der Baumgrenze. Der Sommer ist kurz und die Saison beschränkt sich auf Juli und August. Auch Ende August müssen noch Schneefelder überquert werden und nachts kann die Temperatur schon unter die Nullgradgrenze fallen.

Auf sich gestellt

Roald Amundsen hat auf der Vidda für seine Expedition trainiert. Der Südpol ist nicht unser Ziel, wir wollen sie lediglich in acht Tagesetappen auf rund 140 Kilometern durchwandern. Unser Gepäck ist so, dass wir komplett unabhängig von der Zivilisation sein könnten. Bekleidung, Zelt, Schlafsack, Kocher und natürlich Essen für die gesamte Zeit haben wir dabei. Meine Sorge ist, vor Hunger grollend im Zelt zu sitzen. Entsprechend wird eingekauft. Das Essen mit den meisten Kalorien gewinnt. Sieger sind Fertigmüesli, Nüsse und Schokolade.

Zum Znacht gibt es Trekkingnahrung, die nur mit heissem Wasser übergossen werden muss. So errechne ich 3000 Kalorien für den Tag. Nicht genug bei körperlicher Anstrengung? Jeder Ausrüstungsgegenstand und alle Lebensmittel müssen getragen werden. Man muss vorsichtig sein und selbst dann sind es bei mir so 17 bis 18 Kilogramm Startgewicht. Kaffee und Gummibärchen sind der einzige Luxus.

Hütte oder Zelt?

Unser Startpunkt ist Finse, das nur per Bahn zu erreichen ist. Ziel ist Haukeliseter, von wo uns ein Fernbus wieder in die Zivilisation zurückbringt. In unserem Reiseführer ist die Tour so geplant, dass man täglich in einer Hütte schlafen kann. So wären pro Tag 15 bis 20 Kilometer zu bewältigen. Das klingt nicht nach viel, ist aber unter den Wegbedingungen eine tagesfüllende und ermüdende Aufgabe.

Am Ende wählen wir meistens die Hütte, anstatt zu zelten. Zu verlockend ist die Aussicht auf Dusche und Trockenraum. Doch auch das Zelt kommt zum Zug. Dank skandinavischem «Jedermannsrecht» kann es praktisch überall aufgeschlagen werden. Zum Beispiel an einem Fluss auf einem kleinem Felsplateau mit weitem Rundumblick. Aufreissende Wolkendecke, Wasserfall und Vollmond inklusive. So kann man mit einer Tasse Tee in der Hand noch ein wenig über das Leben, das Universum und den ganzen Rest nachdenken, bevor man in den warmen Schlafsack schlüpft. Auf der weichen Rentierflechte schläft es sich gut.

Von der Hochebene aus geniesst man auch spektakuläre Ausblicke, wie zum Simadalen-Fjord. Bild: Daniel Heddergott

Auf die Zähne beissen

Aber zurück zum Anfang. Das Wetter ist an diesem zweiten Tag nicht besser geworden. Es hat sich eingeregnet, die Jacke bietet Schutz, Hose und Schuhe sind komplett durchnässt. Es sind Bedingungen, bei denen ich in der Schweiz nicht draussen wäre und erst recht keinen steilen Geröllhang hinaufklettern würde.

Und doch: Plötzlich ist alles ganz einfach. Das Ziel ist der nächste Etappenort. Es gibt den einen Weg dorthin. Ein Zurück ist nicht denkbar. Man hat seinen Gefährten und man hat seinen Rucksack mit allem, was man braucht. Mit fast allem. Für eine Regenhose hatte es keinen Platz. Es bleibt nichts, als sich langsam den Abhang entlangzuquälen.

Das sind die Momente, wo man sich im Stillen verflucht und gleichzeitig weiss, dass man sich nach der Reise genau daran erinnern wird. Noch dazu gern und mit ein bisschen Stolz. Wir erreichen den Kamm und nach ein paar hundert Metern sehen wir in den Simadalen-Fjord. Hier sieht man schon das Meer. Der Ausblick belohnt für die Anstrengung, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Am Ende des Tages werden wir für die gut 19 Kilometer fast neun Stunden gebraucht haben. Die anstrengendste Wanderung, die ich je gemacht habe.

Nach einem Erholungstag und einem Tag Schlechtwetter-Zwangspause wird es einfacher. Das Wetter wird von Tag zu Tag besser, die Waden haben sich an die Belastung gewöhnt und der Rucksack wird immer leichter. Die Landschaft wird weiter. Sie bleibt grossartig. Es wird einiges geboten. Es gibt Gletscher und Wasserfälle. Man kann reissende Flüsse auf luf­tigen Hängebrücken überqueren und sanfte Flüsse durchwaten. Kaum ist man eine Stunde gelaufen, sieht alles wieder ganz anders aus.

Alte Bekannte

Auf der Hardangervidda kann man eine grossartige Wanderung unternehmen, man kann den Kopf lüften, ohne ins Grübeln zu verfallen, dazu muss man doch bei jedem Schritt zu sehr aufpassen. Man kann drei Tage ohne Handyempfang laufen. Wo geht das noch? Man kann fast einsam sein und höchstens zehn Menschen am Tag begegnen. Aber eins kann man nicht: Zürich entgehen. In der Litlos-Hütte ein vertrautes Gesicht. Es gehört einem alten Bekannten aus einer gemeinsamen Weiterbildung an der ETH. So kann man tausend Kilometer von zu Hause bei einer Tüte Gummibärchen über alte Zeiten reden.

* Daniel Heddergott hat sein Sabbatical im Sommer 2023 genutzt, um die Hardangervidda zu durchwandern. Er arbeitet in der IT-Abteilung einer Krankenversicherung.

Hardangervidda

Die Hochebene erreicht man von Oslo oder Bergen per Zug oder mit einer der norwegischen Fernbuslinien. Sie ist mit Wanderwegen, Brücken und Hütten erschlossen. Die Infrastruktur wird vom norwegischen Wanderverein DNT (vergleichbar dem SAC) unterhalten. Die meisten Hütten sind im Juli und August von Freiwilligen bewartet.

Geeignete Literatur: Tonia Körner und Michael Hennemann: «Wanderführer Norwegen: Hardangervidda – Fernwanderweg», erschienen im Conrad Stein Verlag.

Daniel Heddergott/Zürich24