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Kultur
06.05.2024

Für unseren Alltag gestaltet

Museumsdirektor Christian Brändle und Clelia Kanai, Leiterin Marketing und Kommunikation, betrachten die Klöppelbilder von Luba Krejči.
Museumsdirektor Christian Brändle und Clelia Kanai, Leiterin Marketing und Kommunikation, betrachten die Klöppelbilder von Luba Krejči. Bild: Jeannette Gerber
Das Museum für Gestaltung sammelt Objekte aus den Bereichen Kunstgewerbe, Grafik, Plakat, Textil, Möbel- und Produktdesign. Nun zeigt es zum ersten Mal seine Schätze in einer dauerhaften Ausstellung. Rund 2000 sogenannte «Collection Highlights» gibt es zu entdecken.

Jeannette Gerber

Oft behält man etwas im Hinterkopf, das man unbedingt einmal sehen will, und nur ein nötiger Impuls lässt dies auch wahr werden. Ein junger Mann, Lorenzo Contin, Praktikant im Bereich Marketing und Kommunikation am Museum für Gestaltung Zürich, schrieb einen spannenden und aufschlussreichen Artikel im hauseigenen Magazin «ZETT» über das Wirken im Schaudepot mit dem Titel «Den Dingen Sorge tragen». Dieser Artikel, der es in die sozialen Medien geschafft hatte, war der Anstoss für unseren Besuch im Museum der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

Seit bald 150 Jahren sammelt das Museum für Gestaltung eine halbe Million Objekte aus den Bereichen Kunstgewerbe, Grafik, Plakat, Textil, Möbel- und Produktdesign und bewahrt sie im Schaudepot im Toni-Areal auf. Über 1000 aus­gesuchte sogenannte «Collection Highlights» sind im Untergeschoss an der ­Ausstellungsstrasse ausgestellt. Dinge aus dem Alltag – schöne, nützliche und kuriose Objekte.

Wenn eine Schrift fasziniert

Christian Brändle, ursprünglich Architekt, ist seit über 20 Jahren Direktor des Museums. Er erklärt, wie die Sammlung zusammengestellt und gepflegt und gemäss welcher Kriterien sie kuratiert wird: «Die Objekte müssen entweder besonders gut oder besonders schlecht sein. Alle Stücke, die uns angetragen werden, nehmen wir jedoch nicht in die Sammlung auf, sie müssen schon eine gewisse Relevanz haben: ästhetisch, kulturhistorisch oder als Innovation.»

Nach seinem Lieblingsobjekt gefragt, meinte er, dass es davon viele gäbe, aber dass ihn zum Beispiel die Schrift Univers aus dem Jahr 1957 von Adrian Frutiger fasziniere. «Das ist die erste Schriftfamilie, bei der die einzelnen Schnitte systematisch und harmonisch aufeinander abgestimmt sind», erklärte er, indem er auf eine Vorstudie wies.

Dann zeigte er auf die Wand mit den unzähligen gesammelten Kartonschnipseln, alle mit Werbung, Piktogrammen oder Icons bedruckt, die aus Schachteln aus der ganzen Welt ausgeschnitten wurden. Diese Wand begeistert ihn ebenso.

Auch der Fotograf René Burri hat es dem Direktor angetan. Brändle öffnet eine Schublade, gefüllt mit Porträts von Ernesto Che Guevara. Eins davon ist heute noch jedem Kind, unter anderem auf T-Shirts gedruckt, ein Begriff. Der Zürcher René Burri gehört zu den bedeutendsten Fotografen unserer Zeit (1933 bis 2014). Seine Porträts von einflussreichen Persönlichkeiten wie Winston Churchill, Le Corbusier, Pablo Picasso, Alberto Giacometti und vielen mehr zählen zu den Bildikonen des 20. Jahrhunderts. Als «Magnum»-Korrespondent reiste Burri an die wichtigsten Schauplätze des Weltgeschehens.

Beeindruckend ist auch das Plakat von Donald Brun aus dem Jahr 1946, das aggressiv gegen das Frauenstimmrecht warb. Es stellt auf viel sagende Weise dar, wie die Frau ihre täglichen Pflichten im Haushalt vernachlässigen würde, wenn sie ihre Pflicht als Stimmberechtigte wahrnähme.

Christian Brändle hatte die vier Sammlungskuratorinnen gebeten, jeweils ein Objekt aus ihrem Bereich exemplarisch für diese Zeitung auszuwählen und einzuschätzen.

Das sind die Höhepunkte

Renate Menzi, Kuratorin der Designsammlung des Museums, wählte das signalrote Dreirad der Wisa-Gloria-Werke in Lenzburg. «Es wurde in den 1960er-Jahren produziert. 1970 entwickelte ein firmeneigener Konstrukteur ein preiswertes Modell für 75 Franken, das sich mit einer Jahresproduktion von 1500 Stück als Kassenschlager entpuppte.» Die einfache Konstruktion beruhe auf einem einzigen Stahlrohr, dessen runder Durchmesser an dem einen Ende vertikal und an dem anderen horizontal zum flachen Oval gepresst worden sei. «Diese Reduktion auf ein statisches Prinzip, die formale Klarheit und die rote Lackierung machten dieses formschöne Dreirad zum zeitlosen Modell, das seit 2010 im Retronachbau weiterproduziert wird», sagte Menzi.

Gemäss der Kuratorin der Plakatsammlung, Bettina Richter, beweist die Französin Catherine Zask einen ungewöhnlichen Umgang mit Schrift. «Buchstaben werden bei ihr zu einem Bild, das den Inhalt einer Erzählung raffiniert vermittelt. Für das Drama ‹Drei Schwestern› von Anton Tschechow im Theater Hippodrome in Douai, Frankreich, illustrierte Zask typografisch mit den zunächst auseinanderstrebenden, dann miteinander verschmelzenden Titelwörtern einerseits das individuelle Unterwegssein der drei Schwestern und andererseits ihre familiäre Verbundenheit. Die ineinander verschlungenen S an den Wortenden werden zum Sinnbild eines Lebenswegs.»

Barbara Junod, Kuratorin der Grafiksammlung, hat sich für die Bündnerin Lora Lamm entschieden. «Die an der Kunstgewerbeschule Zürich ausgebildete Grafikerin arbeitete von 1953 bis 1962 in Mailand: zuerst im Studio Boggeri, danach beim Backwarenhersteller Motta und ab 1954 im renommierten Warenhaus La Rinascente, für das sie einen eigenen illustrativen Stil entwickelte.» Mit ihren charmanten Illustrationen habe sie die vornehmlich weibliche Kundschaft besser erreichen können als mit der sachlichen Grafik des sogenannten Swiss Style. Junod: «Der ovale Frühlingsprospekt ‹Primavera› von 1957, der die Neuheiten und Veranstaltungen von Rinascente ankündigte, sowie die handgezeichneten Entwürfe sind ein gutes Beispiel dafür.»

Laut Sabine Flaschberger, Kuratorin der Kunstgewerbesammlung, nimmt Luba Krejči (1925–2005) im Feld der sogenannten Fiber Art der 1960er-Jahre mit ihren poetischen Fadenbildern eine Einzelposition ein. «In unorthodoxer Weise erfand sie darin die traditionsreiche uralte Klöppeltechnik neu. Neben szenischen Bildern, die Mensch und Tier in harmonischer Weise zusammenführen, hat Luba Krejči eine Reihe einzelner Frauenköpfe geschaffen.» Ihre Bilder würden von einer grossen Vertrautheit mit textilen Techniken zeugen, habe sie doch in ihrer tschechischen Heimat in den 1940er-Jahren zunächst eine Ausbildung als Modistin durchlaufen und anschliessend Textildesign an den Kunstgewerbeschulen in Brünn und Prag studiert.

 

Ein weiterer Höhepunkt im Museum ist die gleichzeitig stattfindende Retrospektive im Erdgeschoss über das Wirken des Fotografen Oliviero Toscani. Bild: Jeannette Gerber

Oliviero Toscani steht im Fokus

Ein weiterer Höhepunkt im Museum ist die gleichzeitig stattfindende Retrospektive im Erdgeschoss über das Wirken des Fotografen Oliviero Toscani, der für seine provokanten Bilder berühmt ist. Der Italiener hat mit seiner Arbeit Werbe­geschichte geschrieben. Die Ausstellung beleuchtet zum ersten Mal sein gesamtes Werk in seiner ganzen Breite.

Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, wurde Toscani 1961 in die damalige Kunstgewerbeschule Zürich (heute ZHdK) in die Fotoklasse aufgenommen. Hier lernte er Fototechnik, Komposition und visuelles Argumentieren. Schon als Student gewann er einen Wettbewerb der Fluggesellschaft Pan Am, die ihn per Privatjet nach New York holte. Dort waren Pan Am, Harper’s Bazaar und andere berühmte Labels seine Kunden. Nebenbei dokumentierte Toscani die afroamerikanische Community und fotografierte die Clubszene von Manhattan. Als Freund von Andy Warhol wurde er Teil dessen Factory und begann internationale Stars zu porträtieren.

Anfang der 1980er-Jahre brach in den USA die Aids-Epidemie aus, worauf Tos­cani für Benetton eine gross angelegte Kampagne zum Thema startete. Die Plakate zeigen Menschen als infiziert markierte Körper.

Auf der Biennale in Venedig 1993 präsentierte Toscani «The United Colors of Sexes» – ein Inventar der menschlichen Scham jeden Alters in allen Variationen. Jedenfalls hat sich Toscani zum Programm gemacht, mit seinen Werken zu polarisieren: «Wer allen gefallen will, der gefällt schlussendlich niemandem so richtig», lautet sein Credo.

2000 beschloss Toscani, eine Kampagne gegen die Todesstrafe zu lancieren. Er reiste mit Sohn Rocco Benetton in die USA und besuchte diverse Gefängnisse, um mit zum Tod Verurteilten zu sprechen. Die Bilder berühren und schockieren. Die betroffenen Opfer jedoch beklagten sich, dass die Kampagne verurteilte Verbrecher schütze. Das führte zur Schliessung aller Benetton-Filialen der amerikanischen Kaufhauskette Sears. Luciano Benetton entschuldigte sich, und Toscani verliess das Unternehmen nach 18 Jahren im Streit.

Führungen durch die «Collection Highlights» an der Ausstellungsstrasse 60 ­finden jeweils sonntags statt. Die Retrospektive «Oliviero Toscani: Fotografie und Provokation» ist bis 15. September zu sehen. Das Schaudepot im Toni-Areal ist nur für Führungen auf Anmeldung zugänglich.

Jeannette Gerber/Zürich24