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Stadt Zürich
28.12.2024

Kreuzfahrt durch Zürich

Haltestelle Militär-/Langstrasse: Hier kreuzen sich die Buslinien 31 und 32. Rechts naht der 32er Richtung Strassenverkehrsamt.
Haltestelle Militär-/Langstrasse: Hier kreuzen sich die Buslinien 31 und 32. Rechts naht der 32er Richtung Strassenverkehrsamt. Bild: Tobias Hoffmann
Zürich ist viel mehr als die Postkartenidylle beim Grossmünster – Sie haben das als Leserinnen und Leser dieser Onlineplattform Jahr für Jahr beinahe hautnah nachlesen und nacherleben können. Nun nehmen wir Sie zum Abschied auf eine «Kreuzfahrt» quer durch Zürich mit, den Buslinien 31 und 32 entlang.

Tobias Hoffmann (Text und Bilder)

Busfahren als Freizeitvergnügen? Wieso denn nicht! Man macht ja als Tourist gerne Stadtrundfahrten. Als Einheimischer kann man das mit den gewöhnlichen Linienbussen tun und sich dabei stellenweise wie ein Fremder in der eigenen Stadt fühlen. Wir schlagen hier nämlich keine Route entlang Zürichs Postkarten­sujets vor, sondern die Erkundung der Stadt mit den beiden Buslinien 31 und 32. Sie kreuzen sich im Zen­trum, und zwar bei der Haltestelle Militär-/Langstrasse in Aussersihl. Hier ist im buslinearen Fadenkreuz betrachtet also Zürichs Mittelpunkt.

Auf den beiden Linien kann man die Stadt diagonal von einer Ecke zur anderen durchqueren: Die Linie 31 führt von der Endhaltestelle Hermetschloo direkt an der Stadtgrenze zu Schlieren bis zur Kienastenwies auf den Höhen Witikons; die Linie 32 durchmisst die Stadt vom Holzerhurd am Rande Affolterns bis zum Strassenverkehrsamt am Fuss des Uetlibergs. Der 31er benötigt für seinen Parcours von West nach Ost mit 33 Zwischenhalten laut Fahrplan eine gute Dreiviertelstunde, der 32er auf seiner Fahrt von Süd nach Nord für 26 Stationen 34 Minuten.

Mit den beiden Bussen streift man das Postkartenzürich nur, dafür erfährt man die verschiedenen Realitäten der Grossstadt umso besser: die ganze Palette von Wohnarchitektur, Büro­einöden, Rotlichtvierteln, Gartenstadtidyllen, grossstädtischen Plätzen, chaotischen Kreuzungen und vielem mehr.

  • Hermetschloo: Terminus des 31ers ganz im Westen an der Stadtgrenze zu Schlieren. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Bahnhof Altstetten: Hier herum will Zürich hoch hinaus – es sind mehrere Hochhausprojekte in Planung oder Realisierung. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Haltestelle Herdernstrasse: Im Hintergrund das Schlachthofareal, das ab 2030 zu einem urbanen Arbeitsplatzgebiet mit öffentlichen Nutzungen weiterentwickelt werden soll. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Die Hohlstrasse bei der Haltestelle Güterbahnhof ist ein unwirtlicher Ort – daran hat auch der Bau des PJZ (rechts im Bild) nichts geändert. Bild: Tobias Hoffmann
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Einst sprengte der 31er die Stadtgrenze und drang bis nach Schlieren vor. Seit der Verlängerung des Trams 2 fährt er noch bis Hermetschloo, einem Ort von 08/15-Bürogebäuden. Beim Farbhof zweigt er von der Badenerstrasse in die Hohlstrasse ab, die er für längere Zeit nicht mehr verlassen wird, und bedient zwei Stationen später, als einziger «grosser» Bus, den Bahnhof Altstetten. Ab dann durchfährt er den gleisfeldnahen Teil Altstettens, der in den letzten Jahren vielerorts in die Höhe wuchs und weiter wachsen wird. Noch nicht so weit ist die Weiterentwicklung des Schlachthofareals, an der der 31er vorbeifährt, bevor er bei der Haltestelle Her­dernstrasse auf die ersten historischen Blockrandsiedlungen trifft.

Wo einst die Tramlinie 1 verkehrte

Ab diesem Punkt durchquert der 31er den gesamten Kreis 4. Nach dem Hardplatz erreicht er die Haltestelle Güterbahnhof, die noch nicht vom nahen Polizei- und Justizzentrum profitiert hat. Sie ist so unwirtlich wie der ganze viel befahrene Strassenzug. Nach der Überquerung des Seebahneinschnitts biegt er links ab und folgt damit dem Trassee der 1954 eingestellten Strassenbahn 1. Eine künftige Wiederbelebung dieser Linie ist langfristig angedacht, deshalb wird an dieser Ecke Zürichs nichts investiert, was je länger, je stärker auffallen wird. Beim Schöneggplatz biegt der Bus nach rechts und erreicht die Kreuzung Militär-/Langstrasse, wo der herbe Charme des früheren Arbeiterquartiers weiterbesteht. Nach dem Stop vor der Sihlpost bedient er mit Löwenplatz, HB und Central grosse Knotenpunkte des Zentrums.

Ab dem Kunsthaus nimmt der 31er die Route durch den Zeltweg. Hier ist er Alleinherrscher. Und hier folgt er – man glaubt es kaum – erneut der ehemaligen Tramlinie 1. Der Vorstadtstrasse entlang wuchs nach der Schleifung der Stadtbefestigung im Jahr 1834 ein bürgerliches Wohnquartier heran, von dem mehrere, zum Teil denkmalgeschützte Gebäude zeugen, unter anderen die Escherhäuser (Nr. 7–15), Wohnort Richard Wagners 1852 bis 1857, vis-à-vis das schmucke Haus zum Zeltgarten Nr. 10, dann das Doppelhaus Nr. 23/25, gleich anschliessend das Haus Nr. 27, in dem Gottfried Keller von 1882 bis zu seinem Tod 1890 lebte, oder auch das Haus des Bildhauers Louis Wethli mit seinem Figurenschmuck (Nr. 62) direkt bei der Haltestelle Sprecherstrasse. Alles in allem trifft man hier ein Freilichtmuseum des verstädterten Hottingen noch vor der Eingemeindung 1893 an.

Nach dieser Idylle, die allerdings durch starken Autoverkehr gestört wird, bedient der 31er die Knoten des Kreises 7: Kreuzplatz, Hegibachplatz, Klusplatz. Dort, wo bis 2017 die Endhaltestelle war, nimmt er Kurs auf Zürichs abgeschnittenstes Quartier, das vom Rest der Stadt durch zwei Tobel getrennte Witikon. Bei der berüchtigten Schlyfi bildet die Strasse im Wald eine Spitzkehre – ein Ort des Schreckens an kalten oder schneereichen Wintertagen. Bei der Schlyfi kann man ins Stöcken­tobel einsteigen und zum berühmten Elefanten spazieren. Hier ist ein beliebtes Revier für Pfadis und andere Freiluftfreunde.

Drei Stationen später macht der Bus vor dem Zentrum Witikon halt, wo das Quartier einkauft. Wir wenden uns aber Witikons geistigem Zentrum zu: An der südlichen Strassenseite ragt ein schmaler Kirchturm auf. Die Neue Kirche wurde 1957 fertiggestellt, nachdem im Zuge der Hochkonjunktur eine rege Bautätigkeit eingesetzt hatte. Heute jedoch müssen nicht neue Gotteshäuser erbaut, sondern alte umgenutzt werden. Die reformierte Kirche kann ihre Säle schon lange nicht mehr füllen. Im Zuge eines Architekturwettbewerbs ist ein Projekt ausgewählt worden, das vier Wohn- und Gewerbegebäude ins Areal um Kirche und Kirchgemeindehaus einfügt.

Es empfiehlt sich ein Abstecher zu einer weiteren Kirche. Fünf Minuten zu Fuss entfernt, an der Carl-Spitteler-Strasse, steht die grandiose Kirche Maria Krönung des weltberühmten Architekten Justus Dahinden (1925–2020), der hier in Witikon wohnte und arbeitete. Sie besitzt einen neoexpressionistischen Innenraum mit ineinander geschobenen Wänden, die sich im Altarbereich nach oben öffnen, was so dramatische wie berückende Lichteffekte ergibt.

Nun verlässt der 31er die Witikonerstrasse, biegt nach Südosten ab und erreicht, an der brandneuen, edlen Wohnüberbauung Verdiana vorbei, die Wendeschlaufe Kienastenwies. Der Blick der ­Aussteigenden geht auf das Gesundheitszentrum für das Alter Witikon – und in die Weite. Wir befinden uns immerhin auf 622 Metern über Meer, mehr als 200 Meter höher als das Bellevue. Hier bleibt oft auch der Schnee von gestern liegen.

  • Der 31er an der Seitenfassade der Kaserne, bevor er zur Haltestelle Sihlpost/HB einbiegt. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Der 31er auf der Fahrt durch den Zeltweg, Richtung Kunsthaus. Hier befinden sich mehrere denkmalgeschützte Häuser wie hier die Nummer 25. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Die Neue Kirche Witikon markiert den ersten Entwicklungsschub des ehemaligen Dorfs in den 1950er-Jahren. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Ein paar Minuten zu Fuss vom Zentrum Witikon entfernt: Die Kirche Maria Krönung des bedeutenden Architekten Justus Dahinden. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Bei der Kienastenwies wendet der Bus. Der Blick fällt auf das Gesundheitszentrum für das Alter Witikon. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Der 32er an der Wendeschlaufe Holzerhurd in Affoltern. Die Zürcher Nordumfahrung ist hier nicht mehr weit. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Haltestelle Einfangstrasse: Mit der Siedlung Affoltern hat die Baugenossenschaft Frohheim Mut zur Farbe bewiesen. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Die Haltestelle Glaubtenstrasse liegt an einem städtebaulichen Loch. Der Baukomplex der Kirche Glaubten (im Hintergrund) ändert daran nichts. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Haltestelle Lägernstrasse: Die bald fertiggestellte Siedlung Tokeh ist ein Beispiel für qualitativ hochstehende und dennoch «invasive» Verdichtung. Bild: Tobias Hoffmann
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Um den Roadtrip mit dem 32er zu starten, müssen wir uns wieder in tieferes Land begeben. Der Start ist ganz im Norden der Stadt in Holzerhurd direkt an der Bahn­linie nach Regensdorf. Die Plattenbauten an der Wendeschlaufe bieten keinen schönen Anblick, aber hoffentlich sind sie wenigstens preiswert. Der Bus fädelt nach seinem Start gleich in die Wehntalerstrasse ein, der er über etwa drei Kilometer treu bleibt. Nach dem Zehntenhausplatz, der bald wieder ein richtiges Quartierzentrum werden soll, zeigt sich linker Hand ein Farbtupfer im grauen Dezemberhimmel: die grosse Siedlung der Baugenossenschaft Frohheim mit einem in Zürich einzigartigen Farbkonzept. Auf holprigem Asphalt geht es weiter zur nächsten Haltestelle Glaubtenstrasse. Rund um die riesige Kreuzung klafft ein städtebauliches Loch, das durch die festungsartige Kirche Glaubten eher akzentuiert als gemildert wird. Nach der Haltestelle Neuaffoltern fährt der Bus dem Friedhof Nordheim entlang und streift somit ein kleines Stück Oerlikon.

Die Wucht der Verdichtung

Beim Brunnenhof, wo sich rechter Hand hinter dem brandneuen Schulhaus Guggach die Gebäude von drei neu gebauten Siedlungen staffeln, biegt der 32er nach rechts in die Hofwiesenstrasse und damit in den Kreis 6 ab. Bald dreht er eine Runde über die Verkehrsdrehscheibe Bucheggplatz und erreicht kurze Zeit später die Haltestelle Lägernstrasse. Hier bildet die Rosengartenstrasse als ruhige Quartierstrasse mit weiteren Strassen einen hübschen Platz, der jedoch keinen Namen besitzt. Etwas weiter unten geht die Siedlung Tokeh ihrer Vollendung entgegen, ein Ersatzneubau der Baugenossenschaft Vrenelisgärtli. Ihre Architektur ist sorgfältig, doch die Wucht der Baumasse zeigt an, wohin es mit der Verdichtung in Zürich gehen kann. Es handelt sich um eine «autoarme Siedlung mit städtischen Auflagen», was bedeutet, dass alle Mietparteien entweder einen Parkplatz im Tokeh mieten oder eine Autoverzichtserklärung unterschreiben müssen.

Danach sticht der Bus zur Limmat hinunter, die er auf der Kornhausbrücke überquert, und erreicht am Limmatplatz den Kreis 5. Dieser Schmalhans ist schnell durchmessen; der Bus nimmt bei der Haltestelle Röntgenstrasse die Unterführung unter dem Gleisfeld und ist schwupps! im  Kreis 4. Hier, rund um die Haltestelle Militär-/Langstrasse, glaubt man ab dem frühen Abend an jeder Ecke Akteurinnen und Akteure des Rotlichts zu entdecken. Der Bus absolviert die ganze Langstrasse, biegt nach rechts ab zur Kalkbreite mit dem berühmten Genossenschaftskoloss gleichen Namens und wechselt zum letzten Mal den Stadtteil: Ab hier bleibt er im Kreis 3.

Neuere und ältere Nostalgie

Nach dem Goldbrunnenplatz verlässt der 32er die Blockrandstadt des alten Wiedikon und klettert zum Friesenberg hinauf. Auf der gleichnamigen Strasse ist er ein Stückchen weit solo. Am Höfliweg überrascht den Passagier ein riesiger Bürokomplex, der mit seiner metallischen Verkleidung wie ein Ufo in diesem reinen Wohnquartier erscheint. Er beherbergt unter anderem den Deutschschweizer Sitz von Nokia. Die fünf tiefblauen Buchstaben an der Fassade wecken nostalgische Gefühle: Vor zwanzig Jahren noch war der finnische Handykomet unbestrittener Weltmarktführer.

Nach der Überquerung der Gleise der Uetlibergbahn wendet sich der Bus links und nimmt die Schweighofstrasse. Hier ist ein einzigartiger Schwerpunkt des genossenschaftlichen Wohnungsbaus, dominiert von der Familienheim-Genossenschaft (FGZ). 1925 bereits, als sich in dieser Gegend noch Lehmgruben und Ziegeleien befanden, begann sie mit dem Bau familienfreundlicher und preiswerter Wohnungen. Bei der Haltestelle Hegianwandweg trifft man ein besonders schönes Beispiel an, das allerdings der kleinen Heimgenossenschaft Schweighof gehört. Die Siedlung «Im Hegi» bildet ein Rechteck, das grosse Grünbereiche und einen zentralen Platz umfasst. Ihre Atmosphäre hat jemand einmal «klösterlich» genannt. Entgegen den Plänen des Stadtrats wurde sie im Juni inte­gral unter Schutz gestellt. Schräg gegenüber hingegen werden gerade die typähnlichen Häuser der Siedlung Grossalbis der FGZ abgerissen. Es sollen 124 zeitgemässe Wohnungen entstehen. Wenige hundert Meter weiter langt der Bus bei der Endhaltestelle Strassenverkehrsamt an.

  • Kreuzung Militär-/Langstrasse: Hier fährt der 32er Richtung Strassenverkehrsamt in die Haltestelle ein. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Ein mächtiger Bürokomplex mitten im Wohnquartier: Der 32er am Höfliweg vor dem Aufstieg zum Friesenberg. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Haltestelle Hegianwandweg: Die Siedlung «Im Hegi» ist ein herausragendes Beispiel für das Gartenstadt-Konzept und deshalb seit Juni integral unter Denkmalschutz. Bild: Tobias Hoffmann
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  • Blick hinunter aufs Strassenverkehrsamt. Bald macht sich der 32er wieder auf seine lange Fahrt nach Affoltern. Bild: Tobias Hoffmann
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Bei unserer «Kreuzfahrt» haben wir den Blick vor allem in den Stadtraum hinausgerichtet. Aber auch das Businnere mit seiner stets wechselnden Kundschaft ist der Beobachtung wert. Zu sehen ist ein soziologisches Panoptikum abseits der oft gut betuchten Innenstadtpassanten. Exemplarisch hat das zum Beispiel der namhafte Autor Willi Wottreng anhand der Buslinie 31 gezeigt (NZZ, 26. März 1993). Als attraktivstes Stück bezeichnet er die Traverse durch den Kreis 4: Das sei «der Orient im zwinglianisch geprägten Zürich». In den 30 Jahren seither hat sich Zürich zwar gewaltig verändert. Die Buslinien 31 und 32 jedoch bieten neugierigen Menschen nach wie vor bestes Anschauungsmaterial, um die vielen städtebaulichen und sozialen Erscheinungen der Stadt zu erkunden.

Tobias Hoffmann/Zürich24