Liebe Zürcher*innen
Vieles von dem, was wir an Zürich liebenswert, interessant oder auch typisch zürcherisch finden, rührt aus der Zeit der ersten Eingemeindung von 1893. Die Bahnhofstrasse oder die Quai-Anlagen, das Züri-Tram oder die Blockrandbebauungen in Aussersihl und im Seefeld stammen aus dieser Zeit. Das gilt auch für die Einteilung in Stadtkreise und für das Gemeindeparlament in seiner heutigen Form. Die flächendeckende Strom- und Gasversorgung sowie ein ständiger Sanitätsrettungsdient sind erst mit der Eingemeindung möglich geworden. Selbst die Vereinheitlichung der Zürcher Strassennamen geht auf diese Zeit zurück. Die Eingemeindung von 1893 hat die moderne Grossstadt mit professionellen und umfassenden Dienstleistungen für die Bevölkerung erst möglich gemacht. In diesem Sinne war die Eingemeindung ein Modernisierungs- und ein Zukunftsprojekt.
Die erste und auch die zweite Eingemeindung von 1934 zeigen, dass eine im Lokalen verankerte Identität auch in der Grossstadt möglich ist. Schwamendingen, 1934 eingemeindet, tickt anders als Aussersihl, das 1893 den Anstoss zu den Eingemeindungen gab. In Wipkingen und Wiedikon hat sich ein eigenständiges Quartierleben entwickelt. Trotzdem ist für die Menschen in Wipkingen oder Schwamendingen, in Witikon oder im Kreis 5 klar: Wir sind Zürcher*innen – mit oder ohne Schweizer Pass. Denn der Pass spielt in Zürich beim Abstimmen eine Rolle, sonst zum Glück kaum. Diese Vielfalt gefällt mir. Sie macht Zürich aus, und wir alle sollten Sorge dazu tragen.
Das Zusammenwachsen so unterschiedlicher Milieus verlief nicht immer harmonisch. Der Generalstreik und die militärische Besetzung der Stadt Zürich vor etwas mehr als hundert Jahren oder der «Frontenfrühling» nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, die Unruhen von 1968 und der Opernhauskrawall von 1980 entzweiten unsere Stadt zeitweise. Aber unsere Stadt fand und findet – wie wir im Dialekt sagen – immer wieder den Rank. Und diese Konflikte öffneten jedes Mal auch neue Perspektiven. Nach demGeneralstreik wurde die Sozialdemokratie zur gestaltenden Kraft in der Stadt, der «Frontenfrühling» öffnete vielen die Augen und liess die Bevölkerung angesichts der Bedrohung der Schweiz und unserer Demokratie durch die Nazis zusammenrücken. Und den Aufbruch von 1968 nutzten die Frauen, um sich ihren Raum in der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu nehmen. Ohne die Unruhen von 1980 wären wichtige Institutionen wie die Rote Fabrik oder das Theaterhaus Gessnerallee nicht entstanden.
Letztlich setzte sich in unserer Stadt immer der Wille zum Zusammengehen und zu einem guten Zusammenleben durch. Diese Fähigkeit der Zürcher*innen hat unsere Stadt vorwärtsgebracht. Und wird uns auch in Zukunft vorwärtsbringen.
Corine Mauch, Stadtpräsidentin Zürich