Schon lange nicht mehr war ich samstags in der Stadt. Auf dem Bürkliplatz tummeln sich die Kauffreudigen, mustern die Ware auf den Tischen des Marktes und manche auch mich, mittendrin. Im Vorbeigehen schweift mein Blick über ein Schweizer Taschenmesser mit der Gravierung «Anna Lang », und ich frage mich, wer sie wohl ist, diese Anna Lang, und was sie wohl tut an diesem flauen Augustsamstag.
Jetzt aber genug getrödelt, der Bus fährt ein und bringt mich zum Mythenquai-Strandbad. Zum ersten Mal! Eintritt: 8 Franken, Studentenrabatt gibt es keinen. Wassertemperatur: 26 Grad. Aktuelle Besucherzahl: 1986. Klingt eher wie ein hübscher Jahrgang, denke ich, die nach dem Eintreten nicht mehr ich ist, sondern Nummer 1987.
Schweiss stürzt sich von meinem Körper. Beim Hiltl Restaurant bitte ich schon beim Eintreten um einen Eiskaffee. Die Serviceangestellte schüttelt den Kopf. «Nur Cold Brew.» «Was ist das?» «Keine Ahnung.» Gut, dann eben Cold Brew, den man sich auch noch selbst zubereiten muss, in dieser Hitze! Und dann diese Serviceangestellte, die gleich mitkommt, zum Automaten, weil sie ja selbst «wissen will, wie’s schmeckt». Ich sag’s mal so: Mit viel Milch und Zucker lässt sich’s trinken. Und ich muss jetzt an Benji denken, der sagte: «Du liebst Kaffee, aber du kannst den echten Geschmack davon nicht ausstehen.» Und ich, die ganz erschüttert war, weil es mit vielerlei Dingen in meinem Leben genauso ist.
Wie sich die Zeit ausdehnt
Während ich draussen sitze, dehnt sich die Zeit aus. Ein Junge prügelt mit einem regenbogenfarbenen Schwimmbrett auf seinen Bruder ein. Ein Kind puhlt sich Sandkörner aus dem aufgeschürften Knie. Eltern schaukeln ihren Nachwuchs in die Schweigsamkeit. Männer trinken Bier, während die Flecken unter ihren Achseln grösser werden. Spatzen picken Brot vom Tisch. Die Kinder rennen der Zeit davon.
So ein Schwimmbad weckt Erinnerungen. Als Kind verbrachte ich viele Tage in der Badi.
Ich habe dort gelernt, aufs WC zu gehen, ich habe es (nach etlichen vergeblichen Versuchen) geschafft, vom Drei-Meter-Turm zu springen, ich beobachtete einen Einbruch, wurde blossgestellt, mit Schweigen bestraft, ich habe gelernt, was Freundschaft heisst. Ich sah zum ersten Mal ein iPhone, fragte einen Jungen nach seiner Nummer und habe statt der Nummer meine Periode gekriegt, ich legte mich eines Nachmittags auf die warmen Betonplatten und hatte plötzlich meinen ersten Moment der Selbstwahrnehmung, als ich mich denken hörte: «Das bin ja ich, hier in mir drin.» Und da war es dann vorbei mit den unbeschwerten Kindertagen.
Der ertrinkende Abend
Gegen Abend leert sich die Mythenquai-Badi. Ich schleife mich apathisch ans Wasser. Erst mit beiden Füssen im weichen Sand verstehe ich Sascha: Vor mir erstreckt sich der gesamte Zürisee, ich sehe die Berge, die ETH und die Kirche mit den Zwillingstürmen, deren Name ich selbst nach all den Jahren in dieser Stadt nicht kenne. Das Wasser ist warm, ich lasse mich treiben, bleibe schwerelos, bis mich der kühle Abendwind aus dem Wasser fegt.
Zum Trocknen setze ich mich auf den Holzsteg. Eine silberne Treppe führt in den Abgrund. Muscheln halten sich tapfer an den Stufen fest. Verstecken ihre Perlen.
Ich lese «Marcia aus Vermont» von Peter Stamm zu Ende. Wind kommt auf und ich spüre in ihm das Meer. Sehe unseren letzten Abend darin ertrinken. Spüre den Sandstrand Italiens und die Wellen, die uns die Füsse küssen, im Takt einer unhörbaren Musik. Zwei Möwen, die im Himmel dazu tanzen. Und du, dessen Duft einem nachts den Kopf verdreht. Wie ein Kleidungsstück, das schon beim ersten Tragen sitzt. Du, der flüstert: «Ich bringe dich ans Meer, nein, ich bringe das Meer zu dir.» Jetzt ist es hier, das Meer. Direkt vor mir. Und vielleicht rufe ich dich jetzt an, mit einer leisen Befürchtung, und der beginnenden Nacht, die antwortet: Das Leben geht weiter.